12.03.2022 – Entdeckungsreise in das Museum Johannes Reuchlin
Pforzheimer Zeitung vom 14.03.2022:
Sphärische Klänge
Klanginstallation erinnert an Johannes Reuchlin. Der Gelehrte schuf einen Dialog zwischen den Kulturen.
Sphärisch wirkt die Musik, die den gesamten Raum erfüllt und durch die Menschen hindurchzugehen scheint. Wenn man herumläuft, verändert sich der Klang. „Genesis“ heißt die Klanginstallation, die sich im Stiftschor der Schloßkirche befindet. Bei einer Führung im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit hat der Pforzheimer Reuchlin-Beauftragte Christoph Timm sie am Samstagmorgen vorgestellt und dabei einmal mehr deutlich gemacht, wie weit Johannes Reuchlin seiner Zeit voraus war. Schon 2015 ist die Klanginstallation komponiert worden. Timm erklärte, dass sie auf einer musikalischen Notation basiert, die Reuchlin 1518 in seine Sprachlehre „De Accentibus et Orthographia Linguae Hebraicae“ aufgenommen hat.
Liturgische Praxis
Vor Augen hatte er dabei die liturgische Praxis des Kantorengesangs in der Synagoge. Denn Lesungen aus der Tora wurden nicht gesprochen, sondern gesungen. Die Tonfolgen, zu denen man das Hebräische singt, konnte man mit bestimmten Buchstabenkombinationen über dem Text kennzeichnen und so dem Vorsinger deutlich machen, welche Töne er zu singen hat. Fast so, wie wenn man sich Gitarrengriffe aufschreibt. Reuchlin tat etwas für seine Zeit Einzigartiges: Er notierte liturgische Gesänge aus einer Synagoge in einer weltlichen Notenschrift. Der Priester und Mathematiker Johann Böschen-stein schrieb die Kantillationen, also die Tonfolgen, des Kantors in der Tenorstimme.
Das hatte er bei einem Rabbiner gelernt. Reuchlin selbst war nie in einer Synagoge. Auch Christoph Schilling, ein Priester aus Luzern, hat an den Notensätzen mitgewirkt, indem er die Polyphonie von Sopran, Bass und Alt hinzufügte, sodass es insgesamt vier Stimmen gibt. Timm sagt, aus dem Gesang in der Synagoge werde so ein Dialog zwischen verschiedenen Kulturen. „Das ist für diese Zeit etwas Außergewöhnliches.“ Reuchlin habe gewusst, wie wichtig Vielfalt für eine freie und lebendige Gesellschaft ist. Bei der Klanginstallation handelt es sich um eine von der Stadt beauftragte Komposition, die die Musikerin Catalina Vicens aus Basel geschaffen hat. Sie verwendete Reuchlins Grammatik als Vorlage und formte aus den Tonfolgen ein zehnminütiges Musikstück. Timm sagt, für Reuchlin sei Musik „ein Lebenselixier“ gewesen. Er bezeichnet ihn als Visionär und erklärt, mit der Zeit habe er sich immer mehr der Position angenähert, dass Juden nicht nur Dialogpartner, sondern Brüder und Schwestern sind. Zwar wollte er sie als bekennender Christ durchaus davon überzeugen, dass Jesus der Heiland ist. Aber Zwang lehnte er kategorisch ab und akzeptierte andere Glaubensrichtungen. „Eine sehr moderne Position, die nicht dem Konsens der damaligen Gesellschaft entsprach“, sagt Timm und berichtet, dass Böschenstein es als Dozent für Hebräisch es an der Universität in Wittenberg nicht lange aushielt, weil Luther nicht gerade ein Freund der Juden gewesen sei. Die Klanginstallation steht im Stiftschor, der heute zum Museum Johannes Reuchlin gehört. Es befindet sich dort, wo nach Reuchlins Tod seine Bibliothek für viele Jahre aufbewahrt worden ist.
Nico Roller, PZ