Reuchlins Augenspiegel

Dramatischer Höhepunkt in Reuchlins Leben ist der Streit um die Bücherverbrennung. Warum ist dieses Ereignis bis heute unvergessen? Johannes  Pfefferkorn, ein getaufter Jude in Köln, versucht zu Reuchlins Zeit, seine ehemaligen Glaubensbrüder missionarisch zu bekehren. Er setzt dabei  zunächst auf das neue Medium der antijüdischen Kampfschrift. Die judenfeindliche Kampagne wird vom Dominikanerorden und von den Professoren der theologischen Fakultät der Universität Köln entscheidend unterstützt und gefördert. Auf Drängen von Pfefferkorn ordnet Kaiser Maximilian 1509 an, gegen die jüdischen Religionsgemeinden in Frankfurt, Mainz und Worms vorzugehen: Pfefferkorn darf ihre religiösen Bücher beschlagnahmen.
In einem zunächst vertraulich an Kaiser und Reichskanzler gerichteten Gutachten bezieht Reuchlin 1510 Position für die Juden und ihre Literatur.
Wie sich bald zeigt, steht er mit dieser Haltung allein gegen die theologischen Gutachter namhafter Universitäten wie Köln und Heidelberg.
Herausgefordert von einer antijüdischen Schmähschrift seines Gegenspielers Pfefferkorn, lässt er sein Gutachten unter dem Titel »Augenspiegel« in deutscher Sprache drucken und im Herbst 1511 auf der Messe in Frankfurt verbreiten: Er macht seinen Standpunkt öffentlich und will, dass die Leser sich ihr eigenes Urteil bilden.
In dieser auf Deutsch und Latein verfassten Schrift »Augenspiegel« tritt Reuchlin der allgegenwärtigen Judenfeindschaft entgegen: Er stellt sich als christlicher Experte des Hebräischen schützend an die Seite der Juden und ihrer Literatur, begegnet Vorurteilen mit Argumenten und spricht sich gegen die Anwendung von Gewalt aus: Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!
Seine einflussreiche Position als Rechtsgelehrter und Staatsmann nutzt er auch, um an die im kaiserlichen Recht verbriefte Gleichstellung der Juden als Bürger zu erinnern: Man soll sie im Rahmen des geltenden Rechts ihre Religion ausüben lassen.
Das selbstlose Engagement für eine verfolgte Minderheit setzt an der Schwelle zur Neuzeit ein bis heute nachwirkendes Zeichen.
Die Nachwelt verbindet Reuchlins Namen mit den humanistischen Werten Toleranz, Freiheit des Denkens und Verständigung durch Dialog.

Christoph und Sonny Timm, in: Ausstellungsbegleitbuch
Museum Johannes Reuchlin, 2012