Johannes Reuchlin Statue im Schnee vor blauem Himmel

Mit dem »Augenspiegel« schuf Reuchlin 1511 eine mutige, kraftvolle, nachhaltige Gegenerzählung zu den allgemein verbreiteten herabwürdigenden Darstellungen von Juden als minderwertigen Dienern und erbitterten Feinden der Christenheit. Den Hasspredigern setzte er das Prinzip von Respekt und Dialog entgegen, Vielfalt schilderte er nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung. Mit diesem Standpunkt zog Reuchlin die Konsequenz aus der gewonnenen Überzeugung, das Judentum müsse als kultureller Beitrag zum Renaissance-Humanismus wertgeschätzt werden.
Sein »Augenspiegel«, das Ergebnis eines eigenen Lernprozesses, sollte zum Fanal werden: Unerwartet geriet Reuchlin in die Pionierrolle eines Anwalts, der uneigennützig und unmissverständlich für die Rechte einer diskriminierten Menschengruppe eintrat. Er nannte eine bislang verkannte Wahrheit beim Namen und stieß eine kontroverse Debatte an – das war ein Meilenstein auf dem Weg zu Toleranz und Aufklärung. Doch noch war die Zeit nicht reif für solche Ideen.

Christoph Timm, Reuchlin, Wegweiser der Völker, in:
Jüdisches Leben im Nordschwarzwald, 2021