Theater und Kunst: Perfekte Harmonie

Reuchlin Plastik

Pforzheimer Zeitung vom 22.06.2022:

Theater stellt Ausschnitte aus dem Stück „Martyr“ vor. Claudia Baumbusch spricht über das Werk des Malers Jörg Ratgeb.

„Was für ein großartiger Abend“, ist die einhellige Meinung der knapp 200 Besucher, die im PZ-Forum die Begegnung von Theater und Kunst erleben. Es passt einfach alles perfekt zusammen: Kunsthistorikerin Claudia Baumbuch, Sängerin Lilian Huynen, die Tenöre Paul Jadach und Philipp Werner, Philipp Haag am Flü-gel, Musikdramaturgin Christina Zejewski und – last not least – der schöne, gut temperierte Forumssaal, durch dessen Fensterfronten zum Abschluss des Abends die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs fallen.

Doch von Anfang an: Intendant Thomas Münstermann hat Libretto und Songtexte zu der von der Stadt in Auftrag gegebenen Musical-Oper „Martyr. Ratgeb – Maler, Mensch und frei“ geschrieben, die Frank Nims gern vertonte. Ein Stück, das mitreißt – mit seinen Texten und Songs. Und so gibt es gleich zu Beginn kräftigen Applaus für Paul Jadach, der in der Rolle des Herzogs stimmgewaltig von Jörg Ratgeb einfordert: „Es ist die Zeit gekommen“. Zeit, um die Bauern gegen die Habsburger Herrschaft zu mobiliseren: „Sei mein Diener, sei mein Knecht. Denn ich bin das Volk.“

Fiktive Figuren

Ulrich, Herzog von Württemberg, ist ebenso wie Ratgeb eine historische Person. Wie das allerdings mit den anderen Figuren dieser Musical-Oper aussieht, erläutert kurzwei-lig und interessant Christina Zejewski. Denn: Figuren wie Ratgebs Freund Ruprecht (auf der Bühne gesungen von Jon Geoffrey Goldsworthy) oder Kunz (Klaus Geber), der dem Maler in Wendepunkten seines Lebens beisteht, sind Teil der schriftstellerischen und in-szenatorischen Freiheit Münstermanns. Auch Neidhardt, der Schärge des Herzogs, ist als brutaler Gegenspieler Ratgebs eine solch eindrucksvolle Statur. Philipp Werner ver-leiht ihm auf der Forumsbühne imposante Gestalt, trumpft mit seinem Tenor in dem Song „Sieh dich vor, du großer Herr“ auf, in dem er Ratgeb seinen ganzen Hass und Neid ent-gegenschleudert – und dem Publikum Bravorufe entlockt. Nicht minder beeindruckt Lilian Huynen die vielen Forumsbesucher. Sie ist in der Rolle der Hiltrud die von Ratgeb zurückgewiesene Frau, die bitter enttäuscht ist und Rache schwört: „Wenn du jetzt gehst, verrate ich dich. In deinen Feind verwandle ich mich“, singt sie auch darstellerisch eindrucksvoll in dem Lied „Was du hier bist“. Vom Musikalischen Leiter der Produktion, Philipp Haag, einfühlsam, mal mit ganz sanften Tönen, mal gewaltig auftrumpfend begleitet, entfaltet dieser Einblick in „Martyr“ eine Sogwirkung. Und sicher alle, die die Musical-Oper noch nicht erlebt haben, ins Theater locken wird.
Claudia Baumbuschs anschließender kunsthistorischer Vortrag, dürfte einige Forum-Besucher hingegen zu einem Besuch der Stuttgarter Staatsgalerie animieren. Denn dort seht der Herrenberger Altar. Doch ehe die Kunsthistorikerin auf dieses Hauptwerk Jörg Ratgebs eingeht, gibt sie einen spannenden Einblick und führt in Zeit des ausgehenden 14. Jahrhunderts plastisch vor Augen: Eine Epoche an der Schwelle des Mittelalters zur Neuzeit, in der die Bauern noch bitterarm und oft Leibeigene sind, in der neue Konti-nente entdeckt und kolonialisiert werden. Das Zeitalter der Entdeckungen, von Luthers Thesenanschlag und Reuchlins Humanismus.
Wann Jörg Ratgeb genau in diese turbulente Übergangsphase geboren wurde, ist nicht bekannt. Wohl um 1470 bis 1475 in Schwäbisch Gmünd. Es gibt Quellen, die behaupten er habe in der Werkstatt von Hans Holbein dem Älteren gelernt, aber die sind ebenso unwahrscheinlich wie die Vierteilung auf dem Pforzheimer Markt im Jahr 1525. Fest seht jedoch: Ratgeb wurde hingerichtet, nicht nur weil er 22 Tage aktiv am Bauernkrieg beteiligt war, sondern auch, weil er als Mitglied einer „Räterepublik“ zum Hochverräter erklärt wurde.
So wenig über sein privates Leben – der wohl frühe Tod seiner ersten Frau und die vom Herzog verweigerte Heirat mit einer Leibeigenen – überliefert ist, so gering ist auch die Anzahl seiner erhaltenen Werke, die nur mit Glück diese Zeitenwende überstanden ha-ben. Das früheste Werk, der Barbara-Altar in Schwaigern von 1510, ist mit seinem Gold-grund und der simultanen Legendenerzählung – Baumbusch nette das humorvoll „Wimmelbild“ – noch ganz der späten Gotik verhaftet. Seinen größten, wichtigsten und schwierigsten Auftrag führt Ratgeb allerdings im Karmeliterkloster in Frankfurt aus. Er gilt heute – obwohl nur noch in Teilen erhalten – als bedeutendste vorbarocke Wandmalerei nördlich der Alpen.

Fordernder Auftrag

Zwischen 1514 und 1521 bemalt er dort den 110 Meter langen und viereinhalb Meter hohen Kreuzgang sowie das 28 Meter lange Wandbild zur Geschichte des Ordens im Refektorium. „Wenn Sie mal nachrechnen, das sind über fünf Ar Fläche“, sagt Baumbusch. Schon jetzt ist der Goldgrund verschwunden, aber wie Ratgeb dann zwischen 1518 und 1522 den Herrenberger Altar gestaltet, das lässt, so Claudia Baumbusch, heute nicht nur an seinen Zeitgenossen Mathias Grünewald denken, sondern auch an Expressionisten wie Erich Kirchner und Max Beckmann. Und sie lädt die Besucher ein, die Tafel mit dem Abendmahl näher zu betrachten: „Eine ungewöhnliche Tischgesellschaft. Ein bunt zu-sammengewürfelter Haufen von Männern, die aussehen, als seien sie in Gassen und Schänken aufgelesen worden“, zitiert sie den Konservator Wolfgang Urban. Und wer noch genauer hinschaut, der bemerkt nicht nur, dass einer der Jünger dem Betrachter den Allerwertesten zeigt, dass überall Spielkarten und Würfel verstreut sind, Judas eine Schmeißfliege in den Mund krabbelt, sondern auch, dass sich sein „bestes Stück“ in höchster Erregung befindet. Details, die im Vortrag immer wieder Anlass zum Schmunzeln geben. Und die einfach zur fulminanten, mit vielen Informationen gespickten Vortragsweise der beliebten Kunsthistorikerin gehören.
Der berühmte Herrenberger Altar von Jörg Ratgeb ist im Besitz der Staatsgalerie Stuttgart und dort auch ausgestellt.

Sandra Pfäfflin, Pforzheimer Zeitung