10.09.2022 – Reuchlin Poetry-Swim
Pforzheimer Zeitung vom 11.09.2022:
Duell der Wortakrobaten
Beim Poetry Swim treten tote gegen lebende Dichter an.
„Von Nebenan“ sorgen im Nagoldfreibad für Livemusik.
Lang, wacklig und glitschig ist der Weg zur Bühne. Er führt über eine Brücke, über einen schmalen Steg und zwei nebeneinanderliegende Holzbretter auf ein Floß, das im Wasser schwimmt – mitten im Becken des Nagoldfreibads, umgeben von Hunderten gelben Quietscheentchen. Während von der Wasseroberfläche sanfte Nebelschwaden in den Abendhimmel aufsteigen und die nahe gelegene Nagold im Hintergrund ein leichtes Rauschen von sich gibt, betritt am Samstagabend ein Wortakrobat nach dem anderen die wackelige Konstruktion, um sich mit seinen Gegnern zu messen.
Acht Teilnehmer treten beim Poetry Swim gegeneinander an, duellieren sich mit eigenen und historischen Texten, werfen mit Metaphern und Anekdoten um sich, jonglieren mit Alliterationen und biografischen Daten. Zum zweiten Mal hat er bereits im Nagoldbad stattgefunden, auf die Beine gestellt von dessen Förderverein und dem Kupferdächle, unterstützt von der Buchhandlung Uwe Mumm und von der Jugend des Technischen Hilfswerks.
Die erste Ausgabe ist im September 2020 über die Bühne gegangen – und damals so gut angekommen, dass sich Fördervereins-Vorsitzender Jörg Müller und seine Mitstreiter dachten: „Das war so geil, das machen wir nochmal.“ Klar, dass auch Lino Wirag sofort wieder dabei gewesen ist, um mit viel Humor und den notwendigen Hintergrundinformationen durch das gut zweistündige Programm zu führen.
Reuchlin und Luther treten an
Obwohl der Kulturwissenschaftler sich bestens auskennt mit Poetry Slams, obwohl er im Kupferdächle schon unzählige von ihnen moderiert hat, ist die Veranstaltung am Samstagabend auch für ihn eine „Weltpremiere“ gewesen. Denn als die Sonne hinter dem Horizont versunken ist, startet im Nagoldbad der Wettstreit zwischen lebenden und toten Dichtern. Zu letzteren gehört im Reuchlin-Jahr natürlich auch der 1455 in Pforzheim geborene Humanist, der von Lisa Sauther dargestellt wird und sich im Nagoldbad über seinen pflichtvergessenen Bruder ärgert. Nicht nur Sauther hat sich ein historisches Ge-wand angezogen, sondern auch Udo Wagner, der Sebastian Brant verkörpert, der einst mit seinem „Narrenschiff“ der frühneuzeitlichen Gesellschaft den Spiegel vorhielt. Als Hans Sachs trägt Ellen Kunze einen Schwank über einen schlauen Mönch vor und Petra Bösl als Martin Luther dessen Übersetzung des Hohelieds.
Die Neuzeitlichen siegen
Am Ende müssen sich die historischen Dichter in der schwimmenden Arena allerdings den neuzeitlichen Wortakrobaten geschlagen geben, deren Texte auch Raum für philosophisch-poetische Betrachtungen bieten, nur eben über andere Themen. Etwa über das Glück, das der Verzehr von Freibad-Pommes auslöst. Pommes, die laut Fabian Seiler immer ein bisschen zu salzig, zu fettig und zu lätschig sind, die man in einer weißen Pappschale und mit einer Holzgabel isst, am besten mit Ketchup und Mayonnaise. Laut nachdenken kann auch Julie Kerdellant – und zwar darüber, wie es wäre, alt zu sein, große silberne Ringe zu tragen, „Obstgarten“ zu essen und „Punica“ zu trinken, im Park Boule zu spielen, über die Jugend zu schimpfen, sich im Laden lauthals über den Preis aufzuregen und den Kopf zu schütteln, wenn Kinder über Tablets wischen.
Marina Sigl erzählt dagegen vom Reisen mit wenig Geld, ohne Hunderter von der reichen Oma, aber dafür mit Ferienjobs. Und Jonas Pan hat eine „Geschichte von Christ-baumkugeln und dem Zug an den Eiern“ auf Lager, in der es nicht nur um einen Arztbesuch, sondern auch um das geht, was Mann zwischen den Beinen hängen hat. Eine humorvolle Geschichte, für die Pan genauso wie die übrigen Teilnehmer viel Applaus erhält.
Der ist auch den Musikern Christian und Jascha sicher. Die beiden gehören zur Band
„Von Nebenan“ und haben selbst geschriebene Songs im Gepäck, die lässig vor sich hin fließen, entspannt und dennoch mitreißend sind. In den Texten der seit 2019 existieren-den Band geht es um alte Freunde, um ein Paket und um das Auto. Teilweise sind sie so kunstvoll geformt, so substanzreich und relevant, dass sie beim Poetry Swim auch in der Arena der Wortakrobaten hätten vorgetragen werden können.
Nico Roller, PZ