Der Mystiker, der seiner Zeit voraus war
Pforzheimer Zeitung vom 13.07.2022:
Welche Parallelen gibt es zwischen Haci Bektas und Johannes Reuchlin?
Im Zentrum unserer türkischen Partnerstadt Nevsehir steht eine imposante Statue von Haci Bektas. Da Pforzheim in diesem Jahr das 500-jährige Jubiläum des Todes von Johannes Reuchlin begeht, ist dies ein guter Anlass, das Wirken von Haci Bektas zu würdigen und zu versuchen, Parallelen zu dem großen Pforzheimer Humanisten zu ziehen.
Haci Bektas (ausgesprochen „Hadschi Bektasch“, wobei Haci einen Ehrentitel für einen Mekka-Pilger darstellt) war ein muslimischer Mystiker (Sufi), der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Anatolien lebte und wirkte. Er wurde in Horasan, einer Stadt im heutigen Iran, geboren. Das antike ostpersische „Chorasan“ war damals ein Zentrum der islamischen Blütezeit. Es wird angenommen, dass Haci Bektas vor der mongolischen Invasion nach Westen in das Reich der Rum-Seldschuken, welches sich zu einer Fluchtstätte für iranische Gelehrten und Heilige entwickelt hatte, geflohen war. Zum Zeitpunkt seiner Flucht nach Anatolien war er ein rund 40-Jähriger Derwisch des Yesevi-Ordens. Er galt als ein anti-orthodoxer Mystiker und war kein Befürworter der Scharia.
Haci Bektas ließ sich in der heutigen Provinz Nevşehir nieder, damals eine entlegene Gegend, aber ein Ort, der für die Gründung eines neuen Zentrums der Sufi-Bruderschaft ideal war. Schon bald nach seiner Ankunft verbreitete sich sein Ruf als spiritueller Führer. Gesinnungsleute halfen ihm, seine Lehre zu systematisieren. Ein Kloster wurde gebaut und zahlreiche Schüler sammelten sich um ihn. Wandernde Derwische trugen seine Lehre in Dörfer und Städte. Einer der bekanntesten unter ihnen war der dichtende Der-wisch des Bektas-Ordens, Yunus Emre, der die Lehren von Haci Bektas in unzähligen Gedichten festhielt.
Seine Gedanken waren zu seiner Zeit revolutionär und faszinierten Menschen verschiedener Glaubensrichtungen. Auf Haci Bektas gehen zahlreiche Aussprüche zurück, die seine Philosophie erläutern, unter anderem „Rituelle Gebete machen keinen Menschen besser“ bzw. „Die Taten zählen, nicht die Worte“ oder „Ermögliche den Frauen eine gute Bildung“.
Bekannter Wallfahrtsort
Das Mausoleum von Haci Bektas befindet sich ebenfalls in der Provinz Nevşehir und ist ein bekannter Wallfahrtsort. Auch heutzutage noch pilgern jedes Jahr am 16. August unzählige Gläubige – darunter sowohl Aleviten als auch Sunniten – in den nach ihm be-nannten Ort Hacıbektaş etwa 45 Kilometer nördlich von Nevşehir. Kann man Gemeinsamkeiten zwischen Haci Bektas und Johannes Reuchlin finden – zwei Männer, die zu unterschiedlichen Zeiten in zwei unterschiedlichen Kulturkreisen lebten? Obwohl die Unterschiede überwiegen, waren es doch beides Gelehrte, die ein humanistisches Weltbild verbreiteten und dabei ihrer Zeit weit voraus waren.
Michael Völkel für die Deutsch-Türkische Gesellschaft Pforzheim