Reuchlins »Kabbalistik«, ein literarisches Vermächtnis
1517 veröffentlichte Reuchlin »Die Kabbalistik« (lateinisch »De Arte Cabbalistica«), ein anspruchsvolles, Papst Leo X. gewidmetes literarisches Werk. In deutscher Übersetzung ist es erst seit 2010 verfügbar.
Reuchlins Idee zu diesem – aus seiner Sicht zentralen – Werk bestand darin, das humanistische Anliegen in eine literarische Form zu kleiden, die Botschaft quasi »durch die Blume« zu vermitteln. Sein Interesse an der jüdischen Mystik, der »Kabbala«, stellte er ins Zentrum eines Gesprächs dreier Menschen aus verschiedenen Ländern, die er auf eine imaginäre Forschungsreise schickte: einen liberalen Muslim aus Istanbul, einen griechischen Philosophen und einen Juden aus Frankfurt am Main. Im Trialog erkundeten diese drei die »gemeinsame Urtradition der großen Religionen« (Gershom Scholem, 1969), verglichen die ethischen und religiösen Perspektiven von Judentum, Christentum und Islam.
Den Auftritt seiner Figuren auf der Bühne der Handlung organisierte Reuchlin wie auf dem Theater (mit dem er als Autor der Komödie »Henno« ja vertraut war). Gleich in der ersten Szene thematisierte der Verfasser bekannte Feindbilder und deren Abbau durch Bearbeitung im Dialog. Als unstrittigen Helden präsentierte er den imaginären Kabbalisten Simon, einen Bewohner des jüdischen Ghettos in Frankfurt. Mit dieser Figur führte Reuchlin das Ideal des gebildeten Juden in die europäische Literatur ein – rund 250 Jahre bevor Gotthold Ephraim Lessing 1779 sein Theaterstück »Nathan der Weise« schrieb.
Christoph Timm, Reuchlin, Wegweiser der Völker, 2021